Was hat es mit der Haltung und Aufrichtung beim Singen auf sich? Was brauche ich? Was ist sinnvoll? Und welchen Ausdruck erschafft meine Haltung?
Immer wieder Fragen, die sich beim Arbeiten mit meinen Sänger:innen im Unterricht stellen. Es ist wohl neben der „Stütze“ eine der Gretchen-Fragen, wenn es ums Singen geht.
Wir wissen, wir sollten aufgerichtet stehen. Aber wenn man gerade steht, wie soll dann der vielseitige Ausdruck auf der Bühne entstehen? Und wird man vielleicht irgendwann fest? Aber wenn man locker stehen möchte, wenn man versucht, möglichst entspannt zu stehen, fühlt man sich oft nicht so wohl in den anspruchsvollen Gesangsparts. Das gilt für Oper und Rock-Pop-Musik gleichermaßen.
Und wie so oft gibt es sehr verschiedene Perspektiven, aus denen man das Ganze betrachten kann.
Wir können uns dem körperlichen Aspekt nähern. Also Anatomie und Physiologie ins Boot holen und schauen, was wir für den Vorgang des Singens benötigen. Denn Singen ist körperlich deutlich anders als auf dem Sofa liegen und Netflix gucken.
Wir können uns aber auch die innere Haltung anschauen. Was beinhaltet sie, sowohl körperlich, aber vor allem auch geistig und emotional? Hat das einen Einfluss auf die äußere Haltung?
Und wir können Assoziationen anschauen, die uns die Worte „Aufrichtung“ und „Haltung“ geben. Diese Art der Betrachtung liebe ich sehr, denn ich mag Sprache in ihrer Vieldeutigkeit und ihrem Farbenreichtum.
Haltung unter dem Aspekt des Körpers beim Singen
Gehen wir vom Körper und seinen Bedürfnissen aus und schauen, was uns an Möglichkeiten zur Verfügung steht und angeboten wird, haben wir grob gesagt zwei gegensätzliche Richtungen, die wir mit Bildern füllen können.

Da ist zum einen das Bild mit dem Marionetten-Faden, an dem mich etwas nach oben zieht. Aufrichtung und Haltung gehen durch ein Ziehen nach oben.
Und im Gegensatz dazu hätten wir den tief verwurzelten Baum, der seine Kraft aus dem Boden bekommt. Aufrichtung und Haltung also nach unten gedacht.
Der Marionetten-Faden und Aufrichtung
Was passiert, wenn wir uns wie an einem Marionetten-Faden hochziehen? Das ist natürlich rein faktisch nicht möglich, es sei denn unser Zweitname wäre Baron von Münchhausen. Doch er wurde auch als Lügenbaron bezeichnet, das könnte uns dieses Bild etwas suspekt machen. 😉

Aber gut, es ist ja auch nur ein Bild und keine physiologische Beschreibung. Und trotzdem ruft dies Bild, wie alle Bilder, etwas in uns hervor. Was ich immer wieder beobachte, wenn dies Bild von den Sänger:innen benutzt wird, ist eine Aufrichtung, die eher grobmotorisch und über die großen äußeren Muskeln vonstatten geht.
Dabei versuchen sie dann gleichzeitig vieles mit den kleinen Muskeln des Kopfes zu halten und zu bewegen, denn den versucht man die ganze Zeit nach oben zu bringen. Bildlich gesprochen halten wir den Kopf über Wasser.
Und die Energie aus unseren Beinen, die wir dringend für Stabilität und Aufrichtung brauchen, geht dabei eher verloren. Zum einen, weil wir die Aufmerksamkeit zu stark nach oben lenken, zum anderen weil es mehr um das nach oben Ziehen geht. Der Stand auf dem Boden, die Wahrnehmung für den Boden als eine Unterstützung geht verloren. Das verursacht – sei es auch unbewusst – eine große Unsicherheit und Instabilität, denn Ziehen nach oben kann keine Stabilität bieten. Wir kämpfen mit der Schwerkraft, die uns scheinbar nach unten zieht und wir möchten uns im Gegensatz zu ihr nach oben ziehen. Was für eine Anstrengung. So entsteht Spannung im Halsbereich, denn wir müssen dabei auch unsere Halsmuskeln leicht anspannen. Aber genau hier sitzt unser Kehlkopf mit den Stimmlippen. Keine günstige Ausgangsposition fürs Singen.
Im Übrigen ermüden unsere großen und groben Muskeln viel eher und sind vor allem nicht so differenzierbar, wie wir es für das Singen benötigen.
Verwurzelung wie ein Baum und Aufrichtung
Das andere Bild ist ein stabil verwurzelter Baum, der seine Wurzeln tief in der Erde hat. Ein sehr schönes Bild, aber taugt das für das Singen? Und was passiert, wenn wir uns körperlich da hinein versetzen und wie ein Baum stehen möchten?

Wenn wir für einen Moment im Bild bleiben dann können sich die Äste und Blätter im Wind bewegen. Das könnte das Spiegelbild unseres Brustkorbs sein, der auf alle Fälle in der Atmung beweglich sein sollte. Aber erfahrungsgemäßig sind Wurzeln zwar ungeheuer stabil und verbinden uns auch mit der Erde, aber eine gewissen Festigkeit ist vorprogrammiert und die Stabilität geht auf Kosten der Flexibilität, die wir auf alle Fälle beim Singen brauchen, auch im Stehen.
Der Boden bietet Unterstützung
Was also kann uns sowohl Stabilität als auch Flexibilität in unserer Aufrichtung und Haltung beim Singen geben?
Ich bitte meine Sänger:innen oft, dass sie den Boden als Unterstützung wahrnehmen, gegen den sie sich aktiv nach oben schieben können. Dabei kann ich vieles beobachten und hören.
Zum einen nimmt die Präsenz zu. Ihr körperlicher Ausdruck verändert sich. Aber auch die Stimme wird kraftvoller, die Leistungsfähigkeit der Stimme steigt enorm. Ausdrucksfähigkeit und Modulationsfähigkeit für den Stimmausdruck nehmen deutlich zu.
Auf wundersame Weise scheint auch die Atmung leichter und besser zu funktionieren.
Hinzu kommen noch die psychischen Aspekte. Auf diese Art müssen wir nicht unseren Kopf oben behalten, sondern können körperlich erleben, wie der Boden uns wirklich trägt, wie er uns unterstützt. Das vermittelt uns ein Gefühl von Sicherheit und Souveränitat, was gerade für die Bühne entscheidend ist. Durch dieses Vertrauen, vom Boden getragen zu sein erhöht sich auch unser Empfinden von Selbstvertrauen, ein Gefühl, was gerade für Sänger:innen auf den Konzert- und Opernbühnen dieser Welt ungeheuer wichtig ist.
Einige der Übungen, die das unterstützen, habe ich in meinem Blogartikel „Fünf Übungen aus der Rabine Methode“ eingehend beschrieben.
Unterstützende Faszien
Eigene Erfahrung mit Aufrichtung und Haltung
Vor sehr langer Zeit machte ich selber bei einem Workshop eine spannende Erfahrung. Das Thema war Feldenkrais und Stimme. Und ich meditierte zu diesem Zeitpunkt jeden Morgen sitzend. Nach dem ersten Tag des Workshops saß ich auf einmal anders. Es war, als würde mich etwas von innen aufrichten. Keinerlei Anstrengung war mehr zu spüren. Die innerkörperliche Empfindung war sehr energiereich, differenziert, einfach und lustvoll. Auch das Meditieren ging an diesem Morgen leicht. Kaum geistige Ablenkung, außer vielleicht durch meine innere Empfindung, die mich regelrecht entzückte.
Was geschehen war, verstand ich Jahre später nochmal sehr viel tiefer als ich begann, mich mit Faszien zu beschäftigen und das Buch von Thomas W. Myers über die myofaszialen Meridiane zu lesen.
Ohne hier weiter auf die verschiedenen Körperlinien einzugehen, die uns mit einer wundersamen Verbindung von Faszien und Muskeln durchziehen, kann ich sagen, dass die Tiefe Frontallinie gerade bei der Aufrichtung eine große Rolle spielt. Natürlich gibt es all diese großen äußeren Muskel-Faszienketten, die wichtig sind, aber gerade für die differenzierte sängerische Aufrichtung ist interessant, was sich in unserem Inneren abspielt.
Unsere Faszien und die Aufrichtung
Hier gibt es jetzt ein bisschen nerdy stuff, wie ich gern sage. Wenn dich Muskeln und Faszien in ihren Einzelheiten nicht sonderlich interessieren, dann lies gern weiter unten weiter.
Die tiefe Frontallinie (TFL), so wie sie bei Thomas W. Myers in seinem Buch „Anatomy trains“ beschrieben wird, geht bei den tiefen Strukturen im Bein los, wandert dann durchs Becken und vor allem auf verschiedenen Wegen durch unsere Eingeweide bis in unseren Hals, wo sie wichtige Strukturen beeinflusst, die wir zum Singen brauchen.
Ich möchte hier ein paar ausgewählte körperliche Aspekte im Zusammenhang mit der Aufrichtung näher beleuchten. Wohlgemerkt, diese Aufzählung ist nicht vollzählig, sondern soll die Vernetzung auf verschiedenen körperlichen Ebenen deutlich machen.
Denn allzuoft bekomme ich im Unterricht die Frage: Was bitte schön, hat mein großer Zeh mit meinem Vokaltrakt und meiner Zunge zu tun?
Haltung von den Füßen bis zum Becken

Diese myofasziale Struktur beginnt in der Tiefe unseres Fußes und geht weiter über die tiefen Strukturen im Unterschenkel und an der tiefen Innenseite des Oberschenkels. Das zeigt uns, dass der untere Abschnitt der Beine enorm wichtig ist. Wir können es uns also definitiv nicht leisten abzuheben. Eine Empfindung von Bodenhaftung und Stabilität von unten ist wichtig. Hier geht es los mit dem Erleben von „sich gegen die Schwerkraft nach oben schieben“.
Aufrichtung innerhalb des Beckens

Und dann kommen wir zu einer spannenden muskulären Verbindung in unserem Becken. Der Musculus Psoas major ist hier enorm wichtig. Er verbindet unseren Oberschenkel durch das Becken hindurch mit unserer Lendenwirbelsäule. Ich erinnere hier gern an die Übung der Kniehebung, die du in meinen „Fünf Übungen aus der Rabine-Methode“ findest. Denn von dort kommen wir direkt zur Verbindung von Becken und Atmung.
Im Bauch- und Brustraum

Wenn wir uns anschauen, wie diese Linie durch den Bauch- und Brustraum führt, treffen wir auf weitere Strukturen, die für das Atmen beim Singen entscheidend sind. Über die Atmung beim Singen gibt es einen eigenen Blogartikel „Sängerische Atmung“ von mir und auch einen tollen, von mir entwickelten Selbstlernkurs „Sängerische Atmung“.
Alle Teile des Zwerchfells werden angesprochen, aber auch das Ligamentum anterius, eine fasziale Struktur, die vor der gesamten Wirbelsäule entlang läuft. Hier verbinden sich auf kongeniale Weise Atmung und Aufrichtung. Wir können sagen, das Zwerchfell ist nicht nur ein Atem-, sondern auch ein Aufrichtungsmuskel. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Sänger:innen bemerken: Zu einer guten Aufrichtung trägt eine sängerische Atmung bei und für eine gute sängerische Atmung brauche ich die entsprechende Aufrichtung, die den gesamten Körper mit einbezieht und sich von unten nach oben vollzieht.
Hals und Rachen beim Singen

Denn wenn wir jetzt weiter nach oben schauen, treffen wir all die Strukturen, die wir mit Singen in Verbindung bringen:
- Wir haben die Aufhängung (Raphe pharyngis) unserer Rachenrückwand. Das ist der hintere Teil unseres Vokaltraktes, der verantwortlich für Klangverstärkung ist.
- Wir haben die gesamten Muskeln um das Zungenbein herum, die dafür sorgen, dass unser Kehlkopf die Erlaubnis zur Senkung bekommt. Damit ist sowohl Leichtigkeit der Stimmgebung als auch Raumerweiterung im Vokaltrakt verbunden.
- Und auch unser Unterkiefer gehört dazu. Und damit alles, was mit der differenzierten Art der Kieferöffnung in Verbindung steht.
Auch hier findest du übrigens sowohl einen detaillierten Blogartikel über die Kieferöffnung als auch einen kostenfreien Video-Kurs über die Bedeutung der Kieferöffnung beim Singen:

Ich glaube, bei dieser Reise durch den Körper ist sehr klar geworden, wie Zehen und Vokaltrakt zusammenhängen. Und damit auch, wie wichtig die Aufrichtung für den gesamten Bereich Stimme, Atmung und Klang ist.
Dann wird auch klarer, dass wir den gesamten Körper in seiner Stabilität und Flexibiltät gleichermaßen unterstützen müssen. Das geht weder mit Nach-oben-Ziehen noch mit Nach-unten-verankern, sondern meiner Erfahrung nach nur mit dem Empfinden von unten nach oben gegen die Schwerkraft schieben, so dass die Kräfte durch den gesamten Körper fließen können. Und leider vergessen wir dabei manchmal die Schwerkraft, die uns eine unglaubliche Hilfe ist.
Und wie mir meine damalige Erfahrung aus dem Seminar gezeigt hat, ist das entgegen dem, was wir manchmal denken keinerlei Anstrengung. Durch die Verteilung der Kräfte fühlt es sich einfach, energetisch und lustvoll an. Ein Gefühl, was wir beim Singen lieben. Oder etwa nicht? Wer will sich schon grundlos anstrengen müssen?
Wie verträgt sich Entspannung und Lockerheit mit Aufrichtung beim Singen?
Und noch ein Begriff schwebt immer wieder im Raum, wenn ich mit meinen Sänger:innen arbeite. Und das ist Entspannung und Lockerheit. Sind diese beiden Worte passend für das, was wir beim Singen brauchen?
Wer oder was entspannt sich wie und wie fühlt sich Lockerheit eigentlich an?
Meiner Erfahrung nach sind dies Begriffe, die wir eher dem Psychologischen zuordnen können, die aber den oben beschriebenen physiologischen, körperlichen Zustand als Grundlage brauchen.
Wir sollten sie also ernst nehmen, denn dies wunderbar subtile emotionale Empfinden ist ungeheuer wichtig. Wir haben hier wieder ein tolles Beispiel, wie der Körper unsere Emotion erschafft. Und wie Wahrnehmung des Ist-Zustandes unseres Körpers uns nicht nur bessere und klangvollere Stimmen produzieren lässt, sondern uns auch schlicht und einfach superglücklich machen kann.
Und sich genauer damit auseinander zu setzen ist sehr entscheidend, denn wie wir über die körperlichen Vorgänge beim Aufrichten denken, welche Körperübungen wir anwenden, welche Vorstellungsbilder, welche Klangbilder wir nutzen, macht etwas mit der Art und Weise wie wir Aufrichtung und Haltung beim Singen einsetzen.
Und wenn wir über das Singen sprechen ist es wichtig, dass wir wissen, welches Anwendungsziel wir verfolgen. Yoga, Meditation und Aikido sind etwas Anderes als Singen. In Bezug dazu ändert sich die Art, wie wir unseren Körper und auch unsere Atmung einsetzen.
Die innere Haltung beim Singen
Und nun möchte ich auch noch etwas über den Subtext sagen, den wir in der Sprache immer wieder vorfinden und der auch unsere inneren Bilder bestimmen und / oder verändern kann.
Der Begriff „Haltung“ sagt Verschiedenes aus. Wir haben die körperliche, eher äußerliche Haltung. Und eine bestimmte Haltung könnten wir als Aufrichtung bezeichnen.

Und dazu kommt die innere Haltung. Sie hat etwas mit unseren Werten, Gefühlen und auch dem Empfinden von Miteinander zu tun. Wir fragen z.B.: Wie stehst du zu Frau Meier? Wie ist deine Haltung zu dieser Interpretation? In solchen Sätzen verbinden wir ganz klar eine innere mit einer äußeren Haltung.
So ist es bestimmt auch eine interessante Frage, wie du zu deiner Stimme stehst. Wie stehst du zu verschiedenen Arten von Musik, wie ist deine Haltung zu deinen Kolleg:innen?
Unsere innere Haltung drückt sich also körperlich aus. Das gilt sowohl für unser privates Leben als aber auch auf der Bühne. Wir können beides nicht trennen. Und wir sollten es auch nicht tun.
Aufrichtung und Aufrichtigkeit beim Singen
Die Haltung und die Aufrichtung scheinen also Verbindungen zu haben, auch wenn sie vielleicht nicht das Gleiche ausdrücken. Und auch mit dem Wort „Aufrichtung“ sind sprachlich verschiedene Dinge verknüpft.

Die Worte Aufrichtung und Aufrichtigkeit scheinen irgendwie miteinander verwandt zu sein. Und da bin ich sehr schnell bei der Authentizität und der Emotion beim Singen, in unserem Klang. Hat eine Aufrichtung vielleicht auch etwas mit Aufrichtigkeit zu tun?
Für mich auf alle Fälle. So kann ich mich mit einer aufrechten Haltung auf der Opern- und Konzertbühne zeigen. Aufrichtig und authentisch in meinem ganz eigenen Klang.
Fazit
So hat für mich die innere Haltung immer etwas mit der äußeren Haltung zu tun. Meine innere Haltung spiegelt sich in der äußeren Haltung. Und umgekehrt darf sich innere Haltung verändern, wenn ich Einfluss auf die äußere Haltung nehme.
Und Aufrichtung hat für mich immer etwas mit Aufrichtigkeit zu tun. Denn die Aufrichtung, die ich außen sehe, spiegelt etwas, was tief in meinem Inneren geschieht. Und das sind sowohl erlebbare körperliche Vorgänge als auch Werte und Gefühle, die damit einhergehen.
Mir stehen alle skills wie man so schön sagt zur Verfügung: eine passende Gesangstechnik und eine Präsenz im Ausdruck und in der Körperhaltung für das Singen. Zudem kommen noch eine innere Haltung, Selbstvertrauen und Sicherheit dazu, die es uns erlauben, uns authentisch und emotional auszudrücken.
In diesem Sinn ist das Singen in seiner leichtesten und klangvollsten Art und Weise auch wieder ein Weg zu mehr Aufrichtung und Aufrichtigkeit, genauso wie zu einer klaren inneren Haltung.