Mein verstorbener Lehrer Eugen Rabine sagte immer, dass der westliche Kunstgesang ein Hochleistungssport sei. Für den einen oder anderen mag das etwas mechanistisch und vielleicht sogar seelenlos klingen.
Welche Leistung wird im Gesang auf der Bühne verlangt?
Wenn wir an all die hohen Töne und schnellen Koloraturen auf der Opernbühne denken, scheint allerdings etwas dran zu sein an der Assoziation des Hochleistungssports. Dazu kommen dann heutzutage noch teils akrobatische Inszenierungen. Das Stehen und an der Rampe singen gehört eindeutig der Vergangenheit an. Da liegt diese Assoziation nicht so fern.
Auch die Sänger:innen aus dem Bereich der Popularmusik müssen heute auf der Bühne teils waghalsige Shows hinlegen und brauchen dafür eine gute Beweglichkeit und vor allem auch Kondition.
Durch unsere Körperübungen, die wir in der Rabine-Methode als wesentlichen Bestandteil nutzen, können wir oft sehr genau spüren, welche Stellen unseres Körpers, gerade für die Aufrichtung und Atmung, teils recht untrainiert sind, um diese Höchstleistungen zu vollbringen. Und so rate ich vielen meiner Sänger:innen, die in Bands singen und anstrengende Performances liefern und den Opernsänger:innen, die mit Hauptpartien auf der Bühne unterwegs sind, dass Sport, Fitness ein wichtiger Bestandteil ihres Berufsalltags sein sollte. Gerade auch sobald wir etwas älter werden.
„Schneller, höher, weiter“ als Zeichen von Leistungsfähigkeit
Und gleichzeitig arbeite ich viel über das Autonome Nervensystem und nutze das Sensomotorische Wahrnehmungstraining. Beides sind Arten zu arbeiten, die viel Spürsinn und eher Langsamkeit verlangen. Wie passt das mit der Hochleistung zusammen? Bei Hochleistung denkt man ja erst einmal an „schneller, höher, weiter“ und assoziiert es eher weniger mit Langsamkeit oder sensibler Wahrnehmung. Eher Konkurrenz und den Gegner, die Gegnerin aus dem Feld zu schlagen, würde ich mal sagen.
Und ich gestehe, ganz früher war ich genau so drauf. Als ich anfing, Gesang zu studieren, sagte ich manchmal leicht abwertend über all die Sänger:innen, die sich spüren wollten, die darüber sprachen, wie sie ihre Schwingungen empfinden und wie Energie fließt: Das sind wieder diese „Müsli-Sänger:innen“. Sie legen keinen Wert auf tolle Kleidung und das hohe C scheint ihnen genauso egal zu sein wie die hohen Schuhe.
Für mich zählte, je länger ich üben konnte, je höher und schneller ich singen konnte, desto besser war und wurde ich. Und natürlich war die Kleidung ein extrem wichtiger Faktor.
Mit dieser Einstellung bin ich persönlich komplett auf dem Bauch gelandet, wie man so schön sagt. Andere haben es mit dieser Einstellung weiter gebracht als ich, aber einige von ihnen sind mittlerweile in meinem Unterricht gelandet, weil sie es stimmlich nicht mehr ausgehalten haben oder auch emotional ausgebrannt sind.
Manchmal bin ich sehr dankbar, dass ich so früh „gescheitert“ bin, denn so musste ich mich auf einen langen Weg begeben, der mich an einer komplett anderen Stelle wieder herausgeführt hat aus diesem Dilemma von Leistung und Achtsamkeit.
Können wir Leistung anders definieren?
Was wir allerdings nicht abstreiten können, ist, dass wir, wenn wir diesen Beruf ausüben wollen, auf die Leistungsfähigkeit unserer Stimme angewiesen sind. Zwar steuert der Vagus, unser größter parasympathischer Nerv, die überwiegende Zahl der Muskeln, die für den Stimmklang zuständig sind, aber all die Aktivität, die wir benötigen, braucht unseren Sympathikus. Das ist klar. Und da kommt die wichtige Frage ins Spiel, wer von beiden die Dominanz hat.
Denn neurologisch macht es einen riesengroßen Unterschied, wer von beiden quasi das Sagen hat.
An anderer Stelle, als ich über die Polyvagaltheorie geschrieben habe, habe ich deutlich gemacht, dass es nicht günstig ist, sich im dominant sympathischen Bereich des autonomen Nervensystems aufzuhalten.
Und da wird es spannend für das Singen. Denn wir können dominant sympathisch oder dominant parasympathisch unterwegs sein. Und das ist kein Widerspruch oder gar eine Unmöglichkeit. Denn der Vagus Nerv, der vor allem für die parasympathische Innervierung zuständig ist, innerviert auch unseren Kehlkopf und teilweise auch unseren Rachenraum. Und wenn wir alles unterstützen, damit er seine Arbeit tun kann, dann haben wir schon viel gewonnen. Und vor allem kann dann der Sympathikus im Dienst des Vagus arbeiten.
Erlaubnis versus Tun
Aber wir müssen doch etwas tun, wir müssen doch aktiv sein, sonst können wir all diese anstrengenden und sehr aktiven Dinge mit unserer Stimme nicht erreichen?
Und da stellt sich immer wieder die Frage: Dürfen wir die Erlaubnis geben, dass der Vagus aktiv sein kann? Dass wir wahrnehmend sein dürfen, statt immer zu tun und zu müssen? Und kann aus diesem Wahrnehmen dann die Freude an dem Wagnis der hohen Töne entstehen? Wie auch Neugier und Begeisterung, die durch die hohe Energie entstehen kann, die diese Tonhöhenumfänge für uns haben?
Was ist denn der Unterschied zwischen Machen und Erlauben? Vielleicht kannst du es an dieser Stelle für dich versuchen nachzuvollziehen? Wie fühlt es sich an, wenn du dir erlaubst, das hohe C zu singen, erlaubst, dass die Koloratur laufen darf. Vielleicht erlebst du dann etwas wie Neugierde, eine Art Spieltrieb. Die Freude, etwas auszuprobieren, damit zu experimentieren. Anstatt dass die Angst oder die Konkurrenzempfindung, die anderen aus dem Feld schlagen zu wollen, uns antreibt. Denn sich selbst die Erlaubnis zu geben ist sehr anders und vor allem zielführender als sich ständig anzutreiben und auf seine Fehler zu hören.
Dann wird auch unsere Stimme anders klingen. Die schrillen, eher schreienden Frequenzen werden deutlich weniger sein, die Leichtigkeit wird mehr im Vordergrund stehen.
Was hat die Technik im Gesang damit zu tun?
Was das Ganze nicht so einfach macht, ist unter anderem auch die Gesangstechnik, die wir verwenden. Ist sie eher auf recht hohen Luftdruck aufgebaut? Wird der Kehlkopf nach unten gedrückt, statt dass er sich von selbst senken darf? Ist meine Klangvorstellung eher durch viele hohe und wenig grundtönige Frequenzen geprägt? Habe ich gelernt, dass ich Emotionen immer möglichst intensiv direkt über die Stimme zum Ausdruck bringen sollte? Was verstehe ich unter Intensität? Was unter Emotion?
Wenn es um Druck geht, kommt auch die Theorie über die Doppelventilfunktion der Stimme ins Spiel. Leitet mich der Überdruck der Stimme oder eher der Unterdruck? Beides sind wichtige Funktionen, die wir im Leben und Überleben benötigen, aber was ist für das Singen zielführend? Was tut uns sowohl gesundheitlich als auch klanglich gut?
All das ist wichtig, im Gesangsunterricht zu erforschen. Denn wir können direkt über die Art wie wir singen Einfluss auf das Autonome Nervensystem nehmen. Und damit entscheidet sich dann, ob sich das Publikum von unserem Gesang eher angeschrien fühlt oder ob wir zu einer anderen Art der Kommunikation fähig sind.
Womit ich nicht sagen möchte, dass wir nicht auch manchmal einen Ausdruck haben möchte, der eher geschrien klingt. Denn manchmal passt das zum Gefühl, was wir ausdrücken möchten. Der Unterschied ist nur, ob ich es als Stilmittel anwende oder ob ich gar keine andere Wahl habe.
Konkurrenz versus Miteinander im Gesang
Aber wollen wir wirklich den Aspekt der Konkurrenz im Gegensatz zum Miteinander in der mitmenschlichen Verbundenheit in den Vordergrund stellen? Wollen wir auf der Bühne kämpfen oder am liebsten davon rennen? Oder wollen wir nicht lieber in einem mitmenschlichen Kontakt miteinander musizieren, klingen und schwingen? Eine Art klanglicher Synergie erzeugen, um mit dieser Offenheit in unserem Wesen und unserer Stimme unser Publikum zu Tränen rühren und sie mit uns mitgehen lassen?
Dann erreichen wir viel eher eine Kommunikation weit über uns selbst hinaus, die die Kunst des Singens zu einem Erlebnis des mitmenschlichen Miteinanders macht und ganz wesentlich zu unserer Kultur und dem Zusammenleben der Menschen beiträgt. Und in dieser Atmosphäre des Miteinanders und der Sicherheit können wir spielerisch unsere gesamte Leistungsfähigkeit der Stimme nutzen.
Ein Gewinn für alle, würde ich sagen.
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