Gibt es Spiritualität im professionellen Gesang?
Spiritualität und Singen ist ein Thema, was mich schon sehr lange persönlich beschäftigt. Seit ich den Benediktushof 2004 für mich entdeckt habe, bin ich diesen Spuren mal intensiver und mal weniger intensiv gefolgt.

Früher bin ich im Sommer und zu Beginn jeden Jahres auf den Benediktushof gefahren und habe dort am Sommer- und Wintertraining mit Willigis Jäger teilgenommen. Und schon damals stellte ich fest, wenn ich im Gewölbekeller in der Mittagspause meine Stimme einfach nur tönen ließ, wie wohltuend das für mich war.
Aus der Stille, die mich umgab, denn wir sprachen nicht und schauten nur auf die mehr oder weniger weiße Wand vor uns, entstanden andere Klänge, entstand eine andere Art von Achtsamkeit für die Stimme, für den Klang, für mich selbst beim Singen.
Und immer wieder stellte sich mir die Frage: Kann ich die Spiritualität mit in den Gesang hinein nehmen? Geht es nicht viel mehr um die richtige Technik? Um das sich vermarkten, die richtigen Noten? Das jedenfalls war es, was ich immer wieder an der Musikhochschule erlebte, wenn ich außerhalb der Meditationszeit war.
Arien entstanden aus dem SEIN
Denn dort fiel sehr oft all das Tun von mir ab. Die Arien entstanden aus einem Melodiefetzen und wurden plötzlich zur Gräfin-Arie, zum Richard Strauss Lied. Keine Ahnung, ob die Tonart stimmte, aber der Klang war häufig so stimmig wie selten. Doch sobald ich anfing zu denken: oh, das ist gut, wie kann ich das bewahren, war es nur allzu oft wieder verschwunden.
Und dann begann ich, für mich selber zu forschen und stellte Verbindungen fest:
- Die mühelose Lautstärke meiner Stimme führte mich direkt in eine emotionale Kraft hinein.
- Das Empfinden meiner Stimmlippenschwingung brachte mich im Unterricht immer wieder total mit dem Hier und Jetzt in Verbindung
- Der Bernoulli Effekt der Stimmlippen, der sie mühelos aneinander saugen ließ, war Kontakt zu mir selbst.
- Manchmal konnte ich das SEIN in nur einem Ton körperlich spüren.
- Das sensomotorische Wahrnehmungstraining war eine Möglichkeit, alle Sinne in das Erleben meiner Stimme mit einzubeziehen.
- Und schlussendlich konnte ich die Schließung meiner Stimmlippen als meine größte Empfindung von Sicherheit wahrnehmen, die ich in meinen biologischen Systemen im Körper habe.
Narrative bestimmen über unser Leben
Große Teile unseres Lebens bestehen aus Narrativen. Das sind die Geschichten, die wir uns und anderen über uns und unser Leben erzählen. Wir stellen damit Zusammenhänge und Sinnhaftigkeit her, wenn es um unsere Persönlichkeit geht.
Leider sind diese Narrative sehr oft vor allem von unseren Leiden und Unzulänglichkeiten geprägt. Unser Unvermögen, etwas richtig zu machen, spielt ganz häufig die Hauptrolle in diesem Szenario.
Meine eigene Geschichte, meine Narrative
Ich habe viele Narrative, die mein Singen betreffen. Von meinen Gesangslehrer:innen bekam ich immer wieder gesagt, was alles nicht bei mir klappt, worin ich mich üben müsste, was mir fehlte, was ich unbedingt erreichen müsste, wenn ich wirklich Sängerin werden wollte.
Und ich selber begann mir und meiner Stimme mehr und mehr unter diesem Aspekt zu lauschen. Nie war ich mit mir zufrieden, nichts Schönes war in meiner Stimme für mich zu hören.
Ich war es ohnehin von klein auf gewöhnt, dass ich besser werden sollte. Im Turnen, im Gitarre spielen, in der Schule. Da fragte ich gar nicht nach, als es im Gesang nahtlos so weiterging.
Bis zu dem Moment, wo meine Stimme wirklich gar nicht mehr machte, was ich brauchte. Der Tonumfang war auf eine Dezime geschrumpft und das Singen tat fast immer weh.
Da war ich also angekommen – in dem Zustand, den man mir immer eingeredet hatte und den ich ohne darüber nachzudenken klaglos übernommen hatte.
Ja, das war auf einmal mein IST-Zustand. Sie hatten also alle recht gehabt und ich überlegte ernsthaft, mit dem Singen komplett aufzuhören. Ich war anscheinend nicht talentiert genug, um es zu lernen.
Was mich in eine andere Richtung schauen ließ, war ein neuer Gesangslehrer, der anders arbeitete. Ja, auch er konfrontierte mich mit meinem IST-Zustand. Jedoch schloss er die Dinge ein, die ich konnte, die gut liefen, bei denen ich mich wohlfühlte. Und von dort aus gingen wir Schritt für Schritt in eine neue Richtung.
Ohne Bewertung, sondern mit Neugier.
Und genau das erlebte und vertiefte ich in all meinen Kontemplations- und Zen Seshins auf dem Benediktushof.
So durfte ich endlich wirklich wachsen.
Der Vagus Nerv und die Stimme
Der Vagusnerv innerviert all die wichtigen Funktionen unserer Stimme motorisch. Und gleichzeitig ist er auch für eine Menge Dinge im autonomen Nervensystem zuständig. Und im Verbund mit anderen Hirnnerven ist er an so vielen Stellen beschäftigt, wenn es ums Singen geht. Zudem ist gerade das autonome Nervensystem das, was uns die Ruhe vermitteln kann, die wir in der Meditation spüren können. Diese unglaubliche Wachheit, die mit einer großen Ruhe zusammengeht.
Genau das kann man sowohl in der Meditation als auch beim Singen spüren.
Wenn ich mich auf die Meditation einlassen kann, werde ich zur Tiefseetaucherin. Dann kann ich die Magie der Stille und Magie der Stimme deutlich fühlen. Aber sobald ich wieder auftauche, kommt der ganze Druck wieder zurück. Und die alten, im Prinzip langweiligen Fragen beginnen mich wieder zu quälen. Und dann höre ich auch wieder auf zu forschen und zu singen.
Stimme und Meditation – viele faszinierende Fragen
Dabei sind sie so faszinierend, die tollen Fragen wie: Was ist es, was mich wirklich singt? Wie atmet es mich? Schließen sich Gesangstechnik, Wissenschaftlichkeit und Spiritualität denn aus?
Professioneller Gesang und Ganzheitlichkeit – was genau ist daran ganzheitlich?
Wie bekommen wir das knallharte Geschäft und all die Unmenschlichkeit, die auf der Bühne herrschen kann, mit der Spiritualität und unserer tiefen Essenz zusammen?
Im evangelischen Gesangbuch gibt es ein Lied von Paul Gerhardt mit dem Titel: Du meine Seele singe. Und in den neun deutschen Arien von Händel heißt eine von ihnen: Meine Seele hört im Sehen. Darf die Seele singen?
In meinem Blogartikel “Noch nicht ganz 100 gute Gründe, um zu singen” habe ich unter Punkt 15 stehen: Singen kann dich zu deinen spirituellen Wurzeln führen.” Oder auch die Nr. 25: Singen ist die Kommunikation der Seele selbst.
Was für eine Art von Präsenz haben wir dann? Wie fühlt sie sich für uns an und wie erlebt uns das Publikum? Kommen wir über unsere To-Do’s wirklich zu den To-Be’s?

Wir könnten uns fragen, ganz nach der IKEA-Werbestrategie: Tust du noch oder Bist du schon? Tun wir auf der Bühne oder sind wir auf der Bühne? Gibt es eine spezielle Bühnenspiritualität?
Ich habe das früher immer mal erlebt. Diese magischen Momente, wo ich ganz da war, ganz in der Musik und / oder der Szene drin war. Verschmolzen mit der Musik, dem Licht auf der Bühne, dem Klang und der Rolle.
Und passend dazu las ich vor ein paar Tagen auf Facebook folgenden Post der Mezzosopranistin Hanna Larissa Naujoks nach einer “Hänsel und Gretel Aufführung”: “Gestern Abend: Ich liege bäuchlings auf der Bühne, Augen zu, spüre, wie der Boden unter mir vibriert vom Orchesterbrausen… wie alles Musik wird. Dieser Moment nach dem Abendsegen, wo Hänsel und Gretel eingeschlafen sind… das ist der Moment, in dem ich weiß, warum ich Oper so sehr liebe. Absolutes Glück!”
Wer dies Stück kennt oder andere vergleichbare Musiken und Situationen weiß sicherlich, wovon sie schreibt. Das zeigten auch die Kommentare unter dem Post.
Sänger:innen gesucht, die Lust haben, sich zu Stimme und Meditation interviewen zu lassen
Und ich würde gern noch viel mehr Stimmen zu diesem Thema hören.
Wenn du dich von dem Thema angesprochen fühlst, wenn du Sänger:in bist, dann würde ich mich freuen, wenn wir ins Gespräch kommen. Kennst du diese Situation? Kennst du diesen Zustand? Erlebst du genau das manchmal auf der Bühne?
Hat für dich die Bühne immer mal wieder etwas mit dieser Art des Seins zu tun?
Im Januar hatte ich begonnen, zu forschen. Mit einer Gruppe von Sänger:innen hatte ich jeden Morgen eine Meditation angeleitet und wir sind von dort aus in den Klang und ins Singen gegangen. Es war eine sehr spannende und berührende Reise und ich werde sie sicherlich fortsetzen.
Liebe Hilkea, wunderbare Gedanken. Danke dafür. Ich kenne diese magischen Momente auch aus dem Improtheater, wenn ich auf der Bühne stehe und plötzlich fällt etwas vom Himmel. Emergenz. Wow. Viele Grüße, Birgit