Verzweifelte Frau, Fehler Suchen oder vermeiden

Kann man Fehler im Gesangsunterricht machen?

Fehler oder Nicht-Fehler im Gesangsunterricht – das ist hier die Frage.

Ein, wie ich finde, interessantes Thema. Die einen sagen, man müsse Fehler machen, um weiterzukommen, frei nach dem Motto: Ich habe so viel gelernt aus meinen Fehlern, ich glaube, ich mache noch ein paar mehr.

Die anderen versuchen, Fehler zu vermeiden. Und die nächsten finden, es gibt keine Fehler, sondern nur Erfahrungen, die man macht und aus denen man lernen kann.

Was ist eigentlich ein Fehler? Ich schaue sehr gern auf Sprichwörter, denn manchmal helfen sie uns weiter oder erweitern unseren Blickwinkel.

Ich habe eine Webseite gefunden, die viele Aphorismen rund um Fehler gesammelt hat. Es ist erkennbar, dass sich vom klügsten Philosophen bis zu Klo-Sprüchen alles Mögliche findet, wenn es um das Betrachten von Fehlern geht. Auch hier noch eine weitere Seite mit Fehlersprüchen. Beide sehr empfehlenswert, wenn man nach Weisheit und Profanität gleichermaßen sucht.

Ich bin selbst ambivalent, was die Fehler angeht. Es wäre gelogen, wenn ich tief innerlich damit einverstanden wäre, dass Fehler einfach Erfahrungen sind und je mehr man davon macht, desto besser ist es. Man sollte sie möglichst früh machen, damit man noch viel davon hat. In Bezug auf mich selbst ist das immer wieder Wunschdenken. Lange könnte ich noch über meine eigene Entwicklung schreiben und wie ich es mit Fehlern und Perfektion sehe.

Doch ich möchte gern schauen, was passiert mit Fehlern im Gesangsunterricht.

Gibt es überhaupt Fehler? Mein Lehrer Eugen Rabine pflegte immer zu neuen Schüler:innen zu sagen: Sie können hier keine Fehler machen. Wenn ich spiele hoch und Sie singen tief, Sie haben recht. Wenn ich sage leise und Sie singen laut, Sie haben recht. Und wenn ich sage A und Sie singen U, Sie haben recht. Denn Singen ist ein komplexer neuro-physiologischer Vorgang und was kommt raus ist immer richtig. (Ich gebe hier mit Absicht seine Art der Grammatik wieder, das ist kein Fehler meinerseits 😉, sondern ich höre ihn immer noch in meinem Ohr, auch wenn er schon 2018 gestorben ist.)

In diesem Sinn lade ich dich ein, dir mein E-Book herunterzuladen. Es enthält vieles, was du ausprobieren kannst und vor allem enthält es Übungen zum Beitrag der Zunge zum leichteren Singen. Und es gibt viele Hinweise auf das Nervensystem. Denn gerade, wenn wir das näher verstehen, können wir die Sache mit den Fehlern unter einem vielleicht ganz anderen Blickwinkel betrachten:

Wir können allerdings noch so viele tolle Sprüche haben von deutschen und anderen Philosophen, man muss sagen, unsere deutsche Kultur ist auf Fehler geprägt. Wir schauen auf sie, als ob das auffinden eine Leistung wäre. In der Schule wird gezählt und rot angestrichen, was falsch ist. So lernen die meisten von uns, dass sie Fehler am besten vermeiden, denn sie führen zu Beschämung, zum Ausgeschlossen werden und wir werden der Lächerlichkeit preisgegeben.

Lernen wir wirklich, wenn wir die Einstellung haben, wir müssen Fehler verbessern oder vermeiden? Was genau bedeutet Fehler verbessern? Wie will man denn einen Fehler verbessern? Ein Fehler ist ein Fehler.

Warum schämen wir uns für Fehler?

Ich denke, weil wir immer wieder beschämt wurden. Beschämung ist ein Erziehungsmittel, von dem wir allerdings langsam wissen sollten, dass es nicht zum gewünschten Ergebnis führt.

In meinem eigenen Gesangsunterricht habe ich es bei einer Lehrerin sehr deutlich erleben können. Immer wenn ich etwas machte, was sie nicht richtig fand, hat sie mich nachgemacht, sie hat mir vorgesungen, wie ich geklungen habe und dann hat sie mir vorgesungen, wie ich klingen sollte.

Jedes Mal fühlte ich mich so beschämt, wie schrecklich es anscheinend in ihren Ohren klang, ich musste die Tränen zurückhalten und das nächste Ergebnis war auch nicht besser. Irgendwann bat ich sie, damit aufzuhören. Sie war erstaunt über meine Reaktion, denn sie hatte mir nur helfen wollen, zu entdecken, was ich falsch mache, damit ich es verbessern könnte. Mein Kopf kann das verstehen, aber mein Herz und vor allem meine Stimme gehen andere Wege.

Was geschieht, wenn wir Fehler aus Angst und Scham vertuschen?

Wenn wir im Gesang versuchen, unsere Fehler zu vermeiden oder sie zu vertuschen, werden wir immer eine Abkürzung suchen. Wir gehen auf Nummer Sicher, wie man so schön sagt. Und das hat nichts mit der echten Sicherheit zu tun, die wir alle brauchen.

Wir suchen nach Strategien, anstatt uns neugierig darauf einzulassen, was unsere Stimme tut, wenn wir sie lassen, wenn wir Dinge ausprobieren. Meines Erachtens fängt es schon beim Denken an. Und zwar beim Denken für mich als Gesangspädagogin.

Habe ich Fragen im Kopf wie:

  1. Wie bekomme ich den Schüler dahin, dass er sauberer singt?
  2. Was ist die richtige Übung, damit die Schülerin den hohen Ton kriegt?
  3. Was muss ich tun, damit der Schüler nicht mehr so brüllt, sondern kultivierter, flexibler und schöner singt?

Ich glaube, dass die Art der Fragestellung uns in eine bestimmte Richtung führt.

Was passiert bei Frage 1?

Schauen wir uns die Frage 1 an. Sie impliziert, dass es eine Unterscheidung zwischen sauber und unsauber gibt. Wo genau liegt diese Unterscheidung? Ab wann ist ein Ton unsauber? Wenn wir uns mit natürlichem Vibrato beschäftigen, wissen wir, dass die Stimme um einen Viertelton nach oben und nach unten dabei variiert. Es ist eine gleichmäßige Bewegung, die den Ton umspielt. Niemand würde sagen, dieser Ton ist unsauber, wir nehmen es nicht so wahr. Manche Menschen nehmen einen Ton, der sich nicht an der hohen Frequenz des Vokals orientiert als unsauber wahr, der Ton ist zu tief in ihren Ohren. Manche Menschen nehmen diesen gleichen Ton als zu hoch wahr, weil ihnen die Grundtonfrequenz nicht stark genug erscheint.

Das hat auch etwas mit der Hörgewohnheit zu tun. Und zwar mit der Hörgewohnheit der Lehrerin. Wenn ich jetzt sage: Du singst zu tief, was wird unser Schüler tun? Er wird versuchen, höher zu singen, und zwar mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Schon geht es nicht mehr um alles, was die Stimme ausmacht und im Endeffekt genau diesen Klang erzeugt, sondern es geht wie in einem Brennglas nur noch um Sauberkeit. Denn Unsauberkeit bezeichnet keinen “falschen” Ton, sondern die Intonation, die sehr fein ist und von unglaublich vielen Dingen abhängt. Und sie hängt zu allergeringsten Teil davon ab, ob unser Schüler gut hören kann. Wir locken ihn also mit dieser Art der Analyse auf ein Gleis, was am Thema komplett vorbeiführt.

Was für andere Möglichkeiten gibt es noch?

Wäre nicht vielmehr an dieser Stelle die Frage interessant, was genau macht mein Schüler da?

  • Welche Frequenzen höre ich, die sein Vokaltrakt verstärkt?
  • Wie ist sein Körpertonus?
  • Wie reagiert die Atmung auf den Körpertonus?
  • Wie ist die Möglichkeit in diesem Zustand, dass der Kehlkopf sich senken kann?
  • Wie viel Druck wendet er während des Singens an?
  • Wie benutzt er seine Mimikmuskulatur während des Singens und vielleicht Einatmens?

Ich stelle mir und ihm kein einziges Mal die Frage, was er falsch macht. Denn er macht nichts falsch, er macht keinen Fehler. Wir schauen, hören und fühlen einen IST-Zustand und beginnen, Wege zu suchen, diesen zu verändern, sodass Bedingungen entstehen, dass sich der Klang verändern darf. Und wir untersuchen jeden Schritt, jeden Lernschritt daraufhin, was für Veränderungen passieren. Wir müssen nichts vermeiden und korrigieren, sondern wir sind in einem Prozess, neue Wege zu bahnen, andere Möglichkeiten zu erforschen. Und ich würde sagen, wir ziehen nicht einmal in Betracht, dass etwas falsch sein könnte, sondern wir sind neugierig, was es für Alternativen zur Gewohnheit gibt. Wir prägen unseren Geist auf Erweiterung statt auf Vermeidung.

Und das macht vom Lernen und vom emotionalen Zustand einen riesigen Unterschied.

Und jetzt horche einmal in dich hinein. Wie geht es dir, wenn du den folgenden Spruch liest? Spornt er dich an? Macht er dich trotzig? Macht der dich wütend? Lässt er dich resignieren? Oder etwas ganz Anderes?

Was passiert bei Frage 2?

Wenn mein Fokus auf dem Finden der richtigen Übung liegt, dann haben wir das Thema mit richtig und falsch auf die Lehrerin verschoben. Sie muss die richtige Übung finden, sie muss es richten. Sie wird vor allem mit sich beschäftigt sein, denn sie möchte möglichst schnell die richtige Übung finden. Dabei geht oft verloren, mit einer Offenheit der Schülerin zu lauschen, ihr zuzuschauen, sie zu fragen und wieder eine Analyse des IST-Zustandes zu machen. Hier ist es auch an der Lehrerin zu bemerken, dass sie sich unter Druck setzt und glaubt, sie müsste die richtige Lösung aus dem Hut zaubern.

Natürlich darf die Schülerin eine Antwort auf ihre Frage erwarten: Wie kann ich meine hohen Töne erreichen? Denn dafür unter anderem kommt sie zum Unterricht. Und dafür sind wir als Lehrer:innen ausgebildet, Wege zu kennen und vermitteln zu können.

Was für andere Möglichkeiten gibt es noch?

Doch der subtile Unterschied liegt im gleichen Thema wie bei Frage 1. Beschäftige ich mich vor allem damit, das Richtige zu finden oder gehe ich gemeinsam mit der Schülerin wieder auf die Suche nach Erweiterungen der Möglichkeiten.

Vielleicht kommt hier auch noch eine Mindset Frage dazu, die viel mit psycho-emotionalen Faktoren zu tun hat.

  • Hohe Töne sind immer so schwer
  • Für hohe Töne muss man richtig ackern
  • Hohe Töne dürfen auf keinen Fall schrill sein
  • Wenn ich einen hohen Ton singe, ist es richtig, wenn er sich auch hoch anfühlt
  • Das Wichtigste in meiner Arie ist der hohe Ton am Ende

Und wahrscheinlich gibt es noch viel mehr, womit man diese Aufzählung ergänzen kann. Da kann es manchmal super funktionieren, das Mysterium von hohen Tönen auf die profane Erde der Physiologie zu holen und zu erklären, was die Bedingungen sind, unter denen hohen Töne leichter zu singen sind.

Interesse an hohen Tönen? Dann schau gern auch mal HIER.

Vorlage Hohe Töne Kurs

Vielleicht experimentieren wir mit mentalem Training. Und noch einmal mit Übungen, die mit der Frage korrespondieren. Und auch hier hat richtig und falsch keinen Platz.

Was passiert bei Frage 3?

Und überall gibt es Menschen, die jedes Haar in der Suppe finden und zählen. Ganz nach dem Motto:

Fehler 3

Da startet alles mit einer Bewertung meines Schülers, die viel mit Ästhetik zu tun hat. Was genau meint Brüllen für mich? Habe ich schon in die Technik des Schülers hineingehört, wenn ich diesen Ausdruck für mich selbst oder auch ihm gegenüber verwende? Was ist schon kultiviert? Und was genau meint schön? Was ist eigentlich eine schöne Stimme?

Das einzige Wort, was nahezu wertfrei rüberkommt, ist das Wort flexibel. Aber auch da stellt sich gleich die Frage: Was genau sollte denn flexibel sein?

Welche Fragen würde ich stellen?

Wenn jemand in einem Forum für Gesangspädagog:innen diese Frage stellen würde, müsste ich erst einmal viel nachfragen, um zu verstehen, welches Ziel er oder sie vor Augen hat. Wenn ich mir vorstelle, was ich unter diesen Worten verstehen würde, kämen mir folgende Beobachtungsmöglichkeiten in den Sinn:

  • Wie hoch ist die mediale Kompression? (Wenn dir Fachworte fehlen, kein Thema, dafür gibt es bei mir das Gesangsglossar 👍)
  • Was denkt mein Sänger über Lautstärke?
  • Was denkt mein Sänger über Tragfähigkeit der Stimme?
  • Wie erlebt er den Raum im Vokaltrakt?
  • Wie geht er mit dem Klang sein Stimme um?
  • Wie erlebt er seine Stimme?

Wir würden hier also zuerst beginnen zu sprechen, was dieser Sänger erleben möchte, wenn er singt und was er selbst für ästhetische Vorstellungen hat. Wenn er schon länger dabei ist, sich selbst beim Singen wahrzunehmen, könnten wir uns mit der Effizienz der Stimmlippenschwingung beschäftigen. So wird er mehr und mehr ein Gespür entwickeln, wie seine Stimmlippen sich selbst effizient regeln und welche Einstellungen im Vokaltrakt nötig sind.

Wir sind dann deutlich mehr mit Wahrnehmung der eigenen Stimme beschäftigt als mit den ästhetischen Fragen von schön und hässlich oder den technischen Fragen von richtig und falsch.

Ist das anders?

Wenn wir auf diese Art an das Lernen und Experimentieren im Gesangsunterricht herangehen, stellen sich diese Fragen gar nicht mehr, sondern wir sind sehr zielorientiert und gleichzeitig neugierig und forschend im Geist.

Das setzt eine Menge Know-how voraus, ein geschultes Auge, Ohr und Gespür für Körper, Stimme und den Menschen vor mir. Und den Mut, in andere Richtungen zu denken und die eigenen Bewertungsmuster zu hinterfragen und mit der Zeit, hinter sich zu lassen.

Das braucht etwas Zeit

Für mich war das ein sehr langwieriger Prozess, denn ich dachte immer, dass ich dann in so einen Lobe-Modus komme, wo keinerlei Fortschritt mehr passieren kann, weil wir jeden Laut schon wundervoll finden müssen. Aber wir sagen in keinem Fall, ach, es ist alles gut so. Entspann dich einfach, lass es kommen, dein Körper weiß schon, was er tut, wenn wir nicht eingreifen. Das ist auch Bewertung, nur in der anderen Richtung.

Im Gegenteil, wir sind bei allem sehr präzise, wir analysieren und verändern. Aber an keiner Stelle geht es um positive oder negative Bewertung. Wir überspringen den Schritt und beziehen alles neu Erforschte auf das, was in Bezug zu unserer Stimme passiert. Und ja, das wird einiges effizienter sein, indem es leichter zu singen wird, das Obertonspektrum sich erhöht, aber das alles hat nichts mit richtig und falsch zu tun.

Der Unterschied ist schwierig zu fassen, aber er ist, was das Lernen und die Angstfreiheit angeht, eklatant wichtig. Es gibt Bedingungen und Umstände, die wir vorfinden und wir suchen gemeinsam einen Weg, diese Bedingungen und Umstände zu verändern. Und dazu braucht es kein richtig und falsch, sondern Kriterien, was wir für das Singen brauchen. Nicht mehr, aber vor allem auch nicht weniger.

Und die Stimme reagiert auf diese Art des Unterrichtens vorwiegend extrem positiv. Für den Sänger mit ihrer Stimme werden auf einmal klarer Kriterien sichtbar und fühlbar und das gibt Sicherheit und Lust auf Ausprobieren.

Magst auch du etwas ausprobieren? Dann lade dir sehr gern mein E-Book herunter. Sei kreativ, habe Spaß am Ausprobieren, das möchte ich dir mit auf den Weg geben. Versuche auf keinen Fall, alles richtigzumachen, denn das wäre ein Fehler. 😉

Was ist menschlich und was ist übermenschlich?

Und kennen wir das nicht alle? Es gibt Stimmung und Launen, wo wir alles fehlerhaft finden. Und es gibt Menschen, die überall nur Fehler sehen. Und auch das ist die Realität.

Auch hier möchte ich am Ende wieder meinen Lehrer Eugen zitieren, der immer sagte: Es gibt keinen perfekten Sänger. Denn ein perfekter Sänger wäre ein perfekter Mensch und Menschen sind niemals perfekt.

Ich möchte noch hinzufügen: Ein perfekter Mensch wäre kein Mensch, sondern ein Übermensch. Und gerade im Gesang liebe ich das menschlich sein, Gefühle zeigen und hören, im Kontakt sein, sich verstehen, sich nicht verstehen. Das ganze Spektrum des Menschseins darf hier hörbar werden. 🙏💃❤️🎉😳🤗😅

1 Kommentar zu „Kann man Fehler im Gesangsunterricht machen?“

  1. Pingback: Testimonial - Hilkea Knies

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert