Fragst du dich auch manchmal, wie du mehr Beweglichkeit im Singen in deine Zunge bekommst? Oder vielleicht auch, was sie überhaupt beim Singen tun sollte? Und wenn du eine Idee hast, was sie tun sollte, dann ist immer noch die große Frage: Warum tut sie es dann nicht, wenn es für das Singen doch so viel besser wäre?
Ich gehe davon aus, dass wir uns einig sind, dass die Zunge beim Singen auf alle Fälle Beweglichkeit und Flexibilität braucht. Und ich finde es wichtig, das Autonome Nervensystem mit einzubeziehen, denn die Zunge hat sehr viel mit Sicherheit zu tun. Da ich schon lange mit dem Blick auf das autonome Nervensystem arbeite, ist das für mich völlig logisch, aber etliche haben mich fragend angesehen und sich oder auch mich gefragt: Was bitte hat die Zunge denn mit Sicherheit und Emotionen zu tun? Autonomes Nervensystem und Zunge – gehören die beiden irgendwie zusammen? Und was ist daran für das Singen interessant?
Die Zunge in unserer Wahrnehmung
Die Zunge spielt beim Singen eine große Rolle.
- Ob wir es wissen oder nicht.
- Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.
- Ob wir uns damit beschäftigen oder nicht.
Den meisten Sänger:innen ist das schon klar. Hören wir doch immer wieder solche “netten” Dinge wie:
Meine Zunge ist mir immer im Weg
Ja, ja, meine Zunge ist echt ein Problem. Sie scheint einfach zu groß zu sein.
Mein Lehrer Eugen Rabine hatte seinerzeit einen Kurs für Sänger:innen und Logopäd:innen mit dem schönen Titel: Prügelknabe Zunge.
Damit wir sie nicht immer als diesen armen Prügelknaben sehen und erleben müssen, habe ich ein E-Book gemacht, was du dir für 0,- € herunterladen kannst. Es enthält etliche Übungen für mehr Beweglichkeit der Zunge beim Singen und auch ein paar Erklärungen:
Und genau dazu machen wir sie allzu oft. Die Arme, sie soll an allem schuld sein. Und dabei möchte sie uns doch nur bestmöglich helfen. Das jedenfalls ist meine feste Überzeugung.
Schauen wir uns also etwas genauer an, was sie da eigentlich tut und was ihr Sinn und Zweck ist.
Und du hast die Möglichkeit, diesen Artikel auch als Podcast zu hören:
Biomechanische Bewegungsmöglichkeiten der Zunge
Die Zunge ist ein ziemlich großes Organ. Sie füllt unseren Mundraum und einen Teil des Rachenraums weitgehend aus. Da wir uns vor allem unserer Zungenspitze bewusst sind und diese gut bewegen können, setzen wir manchmal die Zungenspitze mit der gesamten Zunge gleich, jedenfalls in unserer Empfindung. Aber sie ist viel größer und hat viel mehr Funktionen, als uns am Anfang vielleicht einfallen.
Zunge und Essen
Zuerst ist die Zunge im Vorgang des Essens wichtig. Sie schiebt den Nahrungsbrei an die verschiedenen Stellen zum Kauen und Einspeicheln. Das ist ein wichtiger Vorgang, um die Nahrung optimal verdauen zu können. Dazu hat sie unglaublich viel unterschiedliche Muskulatur, so dass sie sehr differenziert arbeiten kann. Die Zunge selbst besteht aus Muskeln, die sie in alle Richtungen des Raumes bewegen können. Auch von außen strahlt weitere Muskulatur in die Zunge ein. Und natürlich hat sie eine Menge Geschmackspapillen, die erkennen, wie etwas schmeckt und ob etwas wirklich gut für uns ist.
Und da sind wir auch schon im autonomen Nervensystem. Denn die verschiedenen Geschmäcker werden von verschiedenen Hirnnerven aus dem Autonomen Nervensystem erkannt. Und einen Geschmack gut zu erkennen, kann mitunter sehr viel mit Sicherheit zu tun haben. Denn wenn etwas giftig ist, sollten wir es sehr schnell wieder loswerden.
Zunge und Singen
Beim Singen ist sie für uns vor allem wichtig, weil mindestens zwei wichtige Funktionen von ihr beeinflusst werden: sie ist wesentlich an der Artikulation beteiligt, denn wir singen ja Text und dabei formt sie all unsere Vokale und Konsonanten. Und dazu braucht die Zunge eine ganz bestimmte, sehr differenzierte Art von Beweglichkeit.
Und sie ist an der Gestaltung unseres Resonanzraums beteiligt, denn in ihrem hinteren unteren Teil ist sie ein Teil der vorderen Wand desselben. Sie ragt also weit in den Rachenraum hinein. Das kann man auf der Abbildung oben gut erkennen. Wenn sie zu weit in den Rachenraum hinein drückt, schließt sie auch den Kehldeckel (Epiglottis) und das nimmt noch mehr Klang weg.
Und diese beiden Funktionen während des Singens und auch Atmens so auszuüben, dass sie sich nicht gegenseitig stören ist eins der Themen, die im Gesangsunterricht immer wieder eine Rolle spielen.
Beispiel aus der Praxis
Eine wunderbare Übung hat sich dabei immer wieder bewährt. Sie ist auch gut für den Anfang geeignet. Ich lasse meine Schüler:innen auf einem Ton die Vokal A und Ä abwechselnd singen. Ich bitte sie, den Kiefer dabei geöffnet zu lassen und nicht zu bewegen.
Die erste Wahrnehmungsfrage ist dann immer: Wie kommst du von A zu Ä? Was glaubst du? Nach relativ kurzer Zeit stellt sich raus, dass sich die Zunge bewegt. Meist spüren wir, dass sie sich nach oben bewegt, aber auch nach vorne. In welchem Ausmaß ist sehr individuell und spielt zu Beginn keine Rolle. Damit haben wir sie schon aus ihrer Gewohnheit geholt und können deutlich hören, dass der Klang sich verändert. Er wird meist lauter und mehr Frequenzen, vor allem tiefere sind hörbar.
Wenn wir Sprache im Singen so nutzen, wie wir es über das Alltagssprechen gewöhnt sind, geht für gewöhnlich der Raum für die Resonanz der Singstimme verloren. Und wenn wir nur versuchen, den Raum irgendwie groß zu machen, dann verstehen wir entweder nichts mehr oder wir nutzen die Zunge nicht sonderlich effizient und dann fehlt uns beides: Raum und Verständlichkeit.
Das bedeutet: für den klassischen Gesang brauchen wir eine komplett andere Artikulationsbasis als wir von klein auf für das Sprechen gelernt haben.
Das kannst du gleich mit den Übungen aus meinem E-Book praktisch ausprobieren:
Zunge und Kieferöffnung
Und die Zunge tut noch vieles andere, was gar nicht ihre Aufgabe zu sein scheint. Zum Beispiel hilft sie dabei, den Kiefer zu öffnen, indem sie mit den Mundbodenmuskeln zusammen nach unten drückt. Das ist super beim Essen eines BicMac aber nicht so günstig, wenn es um das Singen geht. Denn dafür schließt sie dann unseren Vokaltrakt etwas mehr als für das Singen hilfreich ist. Schau ruhig oben das Bild nochmal an, denn ich finde, man kann gut erkennen, wie sie das macht.
Die meisten Anatomen allerdings können nicht singen, sodass in den Büchern steht, dass einige Zungenmuskeln den Kiefer öffnen. Ja, das steht so in den medizinischen Büchern, aber wir sollten beim Singen hier differenzieren können.
Wir haben folglich biomechanische Wirkungen, die wir beschreiben können. Und vor allem gibt es eine Menge toller Übungen, die man machen kann, damit die Zunge eine Idee davon bekommt, welche Bewegungen sich besser beim Singen eignen als die, die sie über das Sprechen und Schlucken gewöhnt ist.
Beispiel aus der Praxis
Gerade gestern hatte ich eine Schülerin, wo deutlich sichtbar und hörbar war, dass sich die Zunge zu sehr an der Kieferöffnung beteiligte. Und jedes Mal, wenn sie sich für Ä bewegen sollte, gab es einen Konflikt. Entweder hörten wir keinen Vokal Ä oder sie bewegte sich so ruckartig, dass die Stimme für einen ganz kurzen Moment brach, weil die Raumgestaltung plötzlich gestört war.
Hier wendete ich eine Übung an, die ich nur für fortgeschrittene Sänger:innen empfehlen würde. (siehe das Kapitel über Schutz und das autonome Nervensystem)
Ich ließ sie mit einer Hand ihren Unterkieferknochen umfassen und bat sie, den Kopf zu bewegen, ohne dass diese Hand ihre Stellung veränderte. Die Muskeln des Kiefers und der Zunge mussten beginnen, sich komplett anders zu organisieren und über kurze Zeit bewegte sich die Zunge mühelos sehr differenziert. Der Vokaltrakt öffnete sich und wir hatten einen enormen Klang. Der untere Raum öffnete sich. Als wir die Übung später in der Despina Arie von Mozart anwendeten, scherzten wir beide über die kommende Wagner-Despina. Denn der Klang der Stimme war so viel lauter und vor allem runder, dunkler und voller.
Zunge, Atmung und autonomes Nervensystem
Und die Zunge hat noch eine weitere wichtige Funktion, die dann schon zum autonomen Nervensystem überleitet: Sie kontrolliert unsere Luftzufuhr. Wie viel wir ein- und ausatmen, kann die Zunge kontrollieren. Wenn man sich nochmal anschaut, wo sie liegt, ist das auch ganz logisch. Denn der Rachen, der unser Atemweg ist, ist gleichzeitig unser Resonanzraum, unser Vokaltrakt. Wenn wir also hier eine Öffnung haben möchten, die wir für den Klang benötigen, ist das immer auch an die Atmung gekoppelt. Wie atmen wir beim Singen aus und wie atmen wir vor dem Singen ein?
Hören wir Nebengeräusche in der Atmung, dann ist immer die Zunge oder der weiche Gaumen in irgendeiner Weise mit im Spiel. Sie verengen an einer bestimmten Stelle und dort werden Luftströmungsgeräusche hörbar.
Emotionale Aspekte und autonomes Nervensystem
Was aber ist mit emotionalen Aspekten und vor allem den Zusammenhängen mit dem Nervensystem? Denn da gibt es noch sehr vieles, was sich nicht gleich auf den ersten Blick erschließt.
Schauen wir uns zuerst die Emotion an. Im Rachenraum sind einige emotionale Aspekte unseres Menschseins kodiert. Wir schließen diesen Raum mehr oder weniger, je sicherer oder unsicherer wir uns fühlen. Nicht umsonst gibt es im Sprachgebrauch die Ausdrücke, dass es uns die Kehle zuschnürt und wir vor Angst einen Kloß im Hals haben. All das sind Körperwahrnehmungen, die alle von uns kennen und die viel mit der Zunge zu tun haben, aber eben auch eine Emotion beschreiben, die nicht sonderlich angenehm ist.
Die Zunge gehört nämlich ganz eindeutig zum Schutzsystem unseres Körpers und das wird vom autonomen Nervensystem gesteuert. Natürlich können wir die Zunge auch willkürlich, also nicht autonom gesteuert bewegen, aber wenn es um Schutz geht, übernehmen die autonomen Funktionen des Körpers. Dieses Schutzsystem ist dazu da, lebenswichtige Organe, wie die Lunge, zu schützen. Sie verschließt dazu manchmal mehr oder weniger den Rachen, damit keine gefährlichen Partikel in die Lunge eindringen können.
Atmung und Emotion sind aneinander gekoppelt
Das ist dir sicher auch schon aufgefallen. Du atmest anders, wenn du sehr traurig bist oder wenn du wütend bist. Wenn du so richtig glücklich bist, dann nimmst du häufig einen sehr tiefen Atemzug und hast das Gefühl, dein Brustkorb weitet sich sehr. Die Atmung reagiert also auf jede Gefühlsregung, die wir haben und passt sich ihr an. Wenn sie das tut, kann es manchmal nerven. Wenn wir zum Beispiel auf die Bühne wollen und aufgeregt sind, scheint sie nicht das machen zu wollen, was wir immer wieder geübt haben.
Aber das Tolle ist, dass wir dann über den bewussten Teil der Atmung etwas ändern können und damit ändern sich manchmal auch die eher störenden Gefühle. Und daran hat auch die Lage und Bewegung der Zunge einen großen Anteil, denn sie gehört als Kontrolleurin der Luft mit ins Gesamtsystem hinein.
Zunge und Sicherheit
Und da ist sie mal wieder, die Polyvagaltheorie. Denn die 5 Hirnnerven, die für sie wichtig sind, arbeiten eben auch in der Zunge mit. Wir haben den Vagus-, den Glossopharyngeus- und den Facialis Nerv, der an der sensiblen und sensorischen Steuerung der Zunge beteiligt ist. Und da Vagus und Glossopharyngeus die beiden Hauptnerven sind, die unseren Vokaltrakt, den Rachenraum und die Stimmlippen steuern, haben wir von dort viele Einflüsse.
Kein Wunder also, dass die Zunge darauf reagiert, ob wir uns in irgendeiner Situation sicher fühlen oder nicht. Dass sich der Kontakt zu unseren Mitmenschen und vor allem zu unseren Mitmusizierenden, seien es Band, Orchester, Chorkolleg:innen oder Ensemblemitsänger:innen auch auf die Möglichkeiten der Zungenbeweglichkeit auswirkt, ist also keine wirkliche Überraschung.
Und das können wir negativ sehen und uns fragen: ja, was kann ich denn machen, wenn diese äußeren Einflüsse alles zu bestimmen scheinen?
Die Zunge als Kommunikatorin
Oder wir können den positiven Aspekt betrachten. Je mehr du lernst, wahrzunehmen, wie die Empfindung für Raum, Stimmlippenschwingung und eben Zungenposition und -beweglichkeit ist, desto mehr Einflüsse hast du nicht nur auf deinen Gesang, sondern eben auch auf Änderungen in deiner Sicherheitsempfindung und das Miteinander der Menschen, mit denen du umgeben bist.
Und das ist doch wirklich eine tolle Aussicht. Die Zunge als Kommunikatorin. Nicht nur im Sprechen, sondern auch in der Kommunikation mit dir selbst, deinen Emotionen und damit deiner Ausstrahlung nach außen.
Hättest du das gedacht? Neugierig geworden? Dann probiere es doch gleich mal praktisch aus, indem du mit deiner Zunge, ihren Bewegungen und dem Klang experimentierst. Viel Vergnügen dabei.
1 Kommentar zu „Beweglichkeit der Zunge für mehr Klang und Leichtigkeit“
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